Lesetipp: Der Heilpflanzengarten der Schreckse Izanuela ist etwas Besonders. Ihr geheimes Reich befindet sich im Keller ihres lebendigen Hauses, welches im Herzen einer Schreckseneiche eingebettet ist. Der Baumorganismus schafft die allergünstigsten Voraussetzungen für einen Heilpflanzengarten, der keiner Witterung ausgesetzt ist, sondern mit stetiger Wärme, Licht (Lavawürmer), Feuchtigkeit und humuslockerenden Würmern ein Paradies für Pflanzen, Pilze und sonstigen Wesen schafft. Dieser Heilpflanzengarten ist ein fein ersonner, gesponnener Gedankenfaden in der Geschichte des “Schrecksenmeisters” vom wortgewaltigen, phanasiebegabten Autors Walter Moers, meinem gegenwärtigen Lieblingsautoren.
Er muss sich zumindest ein wenig mit Heilkräutern auskennen, was ihn mir noch sympathischer macht. Denn Izanuela beherbergt neben gewöhnlichen Heilpflanzen, die auch wir kennen, zahllose Gewächse aus Zamonien, dem Land, in dem die Geschichten von Moers spielen. Neben wilden Rosen, Orchideen, Farnen oder Kakteen wächst auch Bärlauch, Waldmeister, Wacholder, Lavendel, Schlafmohn, Pestwurz, Seifenkraut oder Adonisröschen im Heilkräutergarten. Die Brennnessel in Izauelsas Reich hat bei solch’ paradisieschen Wachstumbedingungen eine zehnfache Brenn- bzw. Heilwirkung. Dort wachsen ebenso uns unbekannte Heilkräuter wie Petrosilie, Gimpelginster, Gespenster- und Gruselgras, Dämonenginster oder so etwas Grässliches wie Blutrotes Henkerbeil, Totentrompeten oder Drosselfarn. Selbstverständlich besitzt die Schreckse entsprechendes Wissen, um diese Pflanzen gedeihen zu lassen. So wurde sie unter anderem mit dem Pokal des “Grünen Daumens von Wassertal”, einer der begehrtesten Auszeichnungen Zamoniens für “floristische Botanik” gleich fünfmal hintereinander geehrt, worauf sie ausgesprochen stolz ist.
Im “Elysium für alles was Wurzeln trägt”, wie die Schreckse selber sagt, wächst und gedeiht also alles bestens. Die Heilpflanzen liefern ihr Rohstoffe für Heilmittel, die ein Vielfaches an Heilkraft unserer Heilkräuter besitzen. Das ist auch dringend nötig, denn die Heilerin wohnt in der ungesündesten Stadt Zamoniens: Sledwaya. Die Menschen, Tiere, die dort am Fusse des Zauberschlosses vom Schrecksenmeister Eißpin leben, sind furchtbar krank. Sie vegetieren vor sich hin und leiden an unzähligen Krankheiten. Deshalb begrüßen sie sich auch mit “Ohweh Ohweh” und verabschieden sich mit “Gute Besserung!”. Aber eigentlich handelt die Geschichte vom Krätzchen Echo. Ein Krätzchen ähnelt im Aussehen und Wesen einer Katze, kann jedoch alle Sprachen der Tiere und Wesen sprechen. Echo ist ein äußerst seltenes Expemplar, weshalb ihn der unbarmherzige Schrecksenmeister auch vor dem Hungertod rettet. Die beiden schließen einen Vertrag: Eißpin bekocht, unterhält und belehrt das Krätzchen meisterlich einen Monat lang — bis zum nächsten Schrecksenvollmond. Dann muss das Krätzchen sein Leben lassen, damit der böse Zauberer sein Fett auskochen kann. Denn das Fett eines Krätzchens fehlt ihm noch in seiner Sammlung, welche die Krönung und Abschluss eines besonderen alchimistischen Prozesses werden soll.
In Echos Geschichte geht es nicht nur um Gut und Böse, Leben, Krankheit oder Tod, sondern vor allem um die Liebe. Neben der spannenden Entwicklungs- und Beziehungsgeschichte zwischen Echo und dem Schrecksenmeister werden viele weitere Fäden gesponnen, die wie bei allen Werken von Moers scheinbar zusammenhanglos, dann im Nachherein sinnvoll ineinander verwoben sind. Der Schrecksenmeister von Moers ist unglaublich lesenswert, unterhaltsam und mal wieder in einer wunderschönen, phantasiebegabten und wortreichen Sprache geschrieben, die süchtig macht. Moers hat eine ganze Reihe von wundersamen Büchern geschrieben. Wer ihn noch nicht kennt hat, ist ein Glückspilz, denn sie/ er hat noch alles vor sich! Ich bin nun leider auf Entzug, denn mittlerweile habe ich sämtliche Bücher von Moers gelesen — das ist geradezu schrecksenhaft schrecklich!